#57 Guten Morgen, Vietnam

„Wie lange dauert die Fahrt nach Vinh? So 12 Stunden?“ fragt Dominik den Ticket Verkäufer am Vortag. Dieser lächelt: „Mehr“. Na klasse. Vor der bis dato längsten Busfahrt der Reise graut es uns schon seit Tagen. Morgens um 4:40 Uhr stehen wir vor dem Hotel und warten auf unseren Abholservice. Wir sind entspannt, der Bus fährt erst um 06:00 Uhr. Lediglich die wohl am Vortag im Geldautomaten stecken gelassene Kreditkarte verbreitet bei uns ein wenig Unruhe. Wir merken es erst kurz vor Abfahrt, wilde WhatsApp Nachrichten und kurze Telefonate folgen. Glücklicherweise haben wir zu Hause gute Freunde und eine liebe Familie, die schnell reagieren und mit einer Echtzeitüberweisung aushelfen. 20 Minuten nach vereinbarter Zeit kommt auch unser TukTuk.

Es ist die erste Stadt, in der wir nichts zum Frühstück für unterwegs kaufen konnten. Lediglich ein paar Cracker und Cornflakes und ein Trinkpäckchen Milch haben wir für später in unserem Rucksack.

Mit uns wartet ein junges Paar auf unser Taxi, ein weniger unruhiger als wir. Als das Taxi um 5 Uhr vorfährt, erklären sie uns, dass ihnen mitgeteilt wurde, dass der Bus schon um 5 Uhr startet. Sie wollen diesen Bus nach Vietnam unbedingt nehmen, denn sie sitzen seit sechs Tagen aufgrund des chinesischen Neujahrs in Phonsavan fest und mehr als Tonkrüge gibt es hier nicht. In den letzten Tagen fuhren keine Busse nach Vietnam. Die heutige Abfahrt haben sie durch viel Eigenrecherche in der Stadt gefunden. Da unser Rezeptionist für sie beim Busunternehmen anrufen und die Plätze buchen musste, hatte er bereits die Telefonnummer und konnte uns so ebenfalls Sitze reservieren. Einfach Glück gehabt.

Die Fahrt mit dem TukTuk endet nach etwa 250m. Wir sehen unser Hotel nach wie vor. Wir stehen mitten in der Nacht am Straßenrand, unser Fahrer telefoniert, kein Auto ist auf der Straße unterwegs. Plötzlich taucht ein großer Reisebus vor uns auf und hält mitten auf der Kreuzung. Das ist wohl unser. Wir steigen ein. Wir haben ein Schlafbus erwischt, also ein Bus mit Sitzen, die einem Liegestuhl gleichen. Konzipiert sind diese leider für Einheimische. Unsere Körperform will sich nicht der Sitzschale anpassen. Ein Blick zur Seite lässt uns neidisch werden. Bei Asiaten sieht das richtig gemütlich aus, mit dem Handgepäck in Löffelchenstellung machen wir es uns bequem. Dieses Mal ist Dominik der glückliche der schlafen kann, Jasmin muss die Minuten zählen.

Die Pinkel-Pausen am Straßenrand sind wir ja mittlerweile gewohnt. Aus Erfahrung halten die Busse alle 2 Stunden an, wir nutzen also jeden Halt. Auch den Schlafbus darf man natürlich nicht mit Schuhen betreten, um in den Pausen nicht immer die eigenen Schuhe aus der Tüte zu ziehen, wird jedes Mal ein Korb mit Plastikschlappen und ein kleiner Teppich als Wechselbereich vor die Bustür gelegt. Jasmin hat das Prinzip bei der ersten Pause noch nicht verstanden und ist mit eigenen Schuhen vor die Tür getreten, hat aber die dazugehörige Plastiktüte an ihrem Sitzplatz gelassen. Als sie mit den Schuhen in der Hand einsteigen möchte, verzieht der Busfahrer das Gesicht und schimpft. Noch nie hat auf unserer Reise jemand so angewidert geschaut. Die Schuhe werden neu verpackt. Nur widerwillig wird sie durchgelassen.

Früher als gedacht erreichen wir die Grenze nach Vietnam. Wir müssen aussteigen, bekommen am laotischen Schalter unseren Ausreisestempel. Der Beamte prüft so genau, dass wir plötzlich die letzten unserer Reisegruppe sind. Wir eilen durch den Nebel und leichten Regen mehrere Hundertmeter bis zur vietnamesischen Grenze. Das erste Mal auf der Reise durch Südostasien begegnet uns tatsächlich die Angst vor dem Coronavirus. Beim Eintreten in das vietnamesische Grenzgebäude wird uns umgehend ein Mundschutz überreicht, wir müssen die Hände desinfizieren und ein Formular ausfüllen in der wir körperliche Gesundheit versichern. Abschließend werden wir von einer Wärmebildkamera auf Fieber untersucht. Sie ist mit Abstand das technologisch fortschrittlichste Gerät an dieser Grenze, alles andere scheint aus einer anderen Zeit zu stammen. Wir bestehen den Test und dürfen weiter zum Einreiseschalter, um uns das Visum abzuholen.

So gründlich die Menschen kontrolliert werden, so nachlässig werden die Waren gecheckt. Als unsere Rucksäcke gescannt werden, werden Plastikwannen mit Fleisch, Motoren und andere Lebensmittel aufs Laufband gelegt. Im Gang dahinter sortieren die Einheimischen ihre Waren. In der Hoffnung am Grenzübergang eine Toilette zu finden, wollen wir diese noch einmal vor der Weiterfahrt nutzen. Unsere deutschen Mitreisenden schütteln aber schon den Kopf und empfehlen uns hinter das Toilettenhäuschen ins Grüne zu gehen. Noch mit Mundschutz bewaffnet, denkt Jasmin: „Wie schlimm kann das schon sein?“ Auf Reisen fragen wir uns stets, ob wir die schlimmste Toilette bereits gefunden haben oder ob diese noch zu übertreffen ist. Nach dieser Toilette am Grenzübergang scheinen wir einen Gewinner küren zu können. Das Betreten des Gebäudes ist auch mit Mundschutz nur zwei Meter möglich. Aus der Ferne scheint erkennbar warum. Die Toiletten scheinen schon des Längeren nicht mehr ordnungsgemäß abzulaufen, das Nasse auf dem Boden ist sicher kein Wasser. Jasmin traut sich nicht hinter das Gebäude zu gehen, da gerade eine Einheimische die Straße entlang geht. Diese schüttelt nur warnend den Kopf, rümpft die Nase, um zu zeigen, dass die Toilette erbärmlich stinkt und zeigt ihr, sie solle hinter das Häuschen gehen. Wie gut, dass wir gerade hinsichtlich unseres Gesundheitszustandes geprüft wurden, das hier aber ok ist.

Es dauert 90 Minuten bis unser Bus von den Grenzbeamten frei gegeben wird. Er wurde gründlich durchleuchtet. Zeitweise krabbelt sogar ein Beamter über das Dach. Währenddessen werden wir von einem Europäer angesprochen. Er ist zu Fuß unterwegs, wirkt ein wenig verrückt und mitgenommen, hat aber ein erstaunliches Verständnis von der Welt. Er hat uns fünf Touristen stehen sehen, sich ins Gespräch gebracht und platzt fast vor Reisetipps. Er ist dankbar nach Wochen in Vietnam mal wieder Englisch sprechen zu dürfen und kann es kaum erwarten nach Laos zu laufen, dort sei das Schlafen auf den Straßen wieder sicherer. Dann die Erleichterung, unser Bus darf weiterfahren, wir müssen uns vom seltsamen Fremden verabschieden und atmen auf.

Direkt nach der Grenze wird sichtbar, wir haben das Land gewechselt. Saftig grüne Wälder umringen uns, die Dörfer wirken aufgeräumter und wir passieren die ersten Reisfelder in den Hängen. Aus diesem Grund wollte Jasmin immer nach Vietnam. Schon jetzt war es die Reise wert. Wieder einer dieser Kindheitsträume erfüllt. Je näher wir Vinh kommen, desto flacher wird das Land. Auf den Feldern pflügen Ochsen den Acker, Reisbauern stehen bis zum Knöchel im wässrigen Reisfeld. Jeder freie Quadratmeter wird hier als Ackerland genutzt. Wir erreichen Vinh am Ende 3 Stunden früher als erwartet. Die 12 Stunden Fahrt waren dank Schlafbus tatsächlich angenehm. Wir teilen unser Taxi mit einer der Busbekanntschaften und erreichen unser Hotel noch vor Einbruch der Dunkelheit. Auf der Suche nach einem Abendessen treffen wir den Hamburger wenig später wieder. Gemeinsam finden wir einen kleinen Straßenstand mit Nudelsuppe und genießen die kurzweilige Bekanntschaft. Die Einheimischen freuen sich über uns als Gäste. Vinh ist eben keine Touristenstadt. Zurück im Hotel genießen wir das sauberste Zimmer seit Beginn unserer Reise und gehen umgehend schlafen. Selbst der dröhnende Bass aus dem Untergeschoss, in dem eine Hochzeit stattfindet, kann uns nicht mehr stören.

Im Vietnamkrieg wurde die Stadt fast gänzlich zerstört und in den letzten Jahren neu aufgebaut. Ein ähnliches Schicksal wie das Ruhrgebiet, ähnlich unspektakulär für Besucher ist sie dadurch ebenso. Den Tag in Vinh verbringen wir mit Durchatmen und der Planung der nächsten Tage. Wir genießen den Ausblick, uns liegt die Stadt zu Füßen.

Wir probieren gerne alle Verkehrsmittel aus und so geht es mit dem Zug nach Hue. Den passenden Bus am Busbahnhof zu finden fiel uns nie schwer, aber hier dürfen wir nicht einmal den Bahnsteig betreten. Die Bahnhofstüren sind verschlossen, niemand spricht Englisch, wir warten einfach. Plötzlich hektisches Treiben, eine Durchsage, es scheint loszugehen. Wir dürfen aufs Gleis und finden sogar auf Anhieb den richtigen Wagon. Die achtstündige Zugfahrt in der 2. Klasse kostet etwa 12 Euro pro Person, die Sitze sind bequem, nur der Geruch im Zug birgt Optimierungsbedarf.

Mit uns fahren viele Einheimische. Der Zug hat fragwürdig installierte Monitore an der Decke. Es dudelt Non-Stop ein Programm aus Sketchen, die auch ohne Sprachkenntnis schon nicht witzig aussehen und nervigen Musikvideos – mit Ton. Ein Kleinkind fängt an zu weinen, mit Essen bestechen lassen will es sich nicht, die Mutter kann es nicht beruhigen, also gibt der Vater dem Kind einen Schlag auf den Po. Jasmin steht das Entsetzen vermutlich ins Gesicht geschrieben. Alle Einheimischen drum herum lachen. Es scheint völlig normal zu sein. Das Kind schreit noch mehr. Schwierig hier mit dem Argument der Kultur zu kommen.

Da wir Hue erst spät erreichen, bleibt nur noch Zeit für ein Abendessen. Trotz der etwa 340.000 Einwohner, werden hier die Bürgersteige zeitig hochgeklappt. Eine Pizzeria ist neben einigen Cafés noch die einzige Anlaufstelle für Menschen mit Hunger zur fortgeschrittenen Stunde. Unsere Unterkunft ist nett, der Garten dafür um so schöner. Das Zimmer teilen wir uns heute Abend leider mit einer Kakerlake. Während Jasmin quietschend auf dem Bett sitzt, erledigt Dominik das Tier heldenhaft mit dem Wurf eines Schuhs. Das Massaker wird mit Toilettenpapier abgedeckt, nur wer es nun anschließend beseitigen soll, wird stark diskutiert.

Die meisten Touristen besuchen die Stadt aus einem Grund – der Zitadelle. Zwischen 1802 und 1945 regierten die Kaiser der Nguyen-Dynastie in Hue, der damaligen Hauptstadt Vietnams. Ihr damaliges Reich erschloss neben dem heutigen Vietnam nahezu komplett Laos und Kambodscha. Ab 1883 regierten sie aber nur noch unter französischer Oberherrschaft. Die Zitadelle, die von der kaiserlichen Familie Nguyen Phuc bewohnt wurde, ist heute Magnet für viele Reisende wie uns.

Die Anlage ist von einer eindrucksvollen Mauer umgeben, die in jede Himmelrichtung durch ein massives Tor betreten werden kann. Angelehnt ist die Anlage an den chinesischen Kaiserpalast in Peking. Besonders imposant ist das heutige Eingangstor. Ein riesiger Versammlungsplatz trennt Tor und Fahnengebäude. Drei Eingänge führten ursprünglich durch das Tor ins Innere. Einer für Menschen, einer für Pferde und einer für Elefanten.

Wird in Südostasien gerne für jeden kleinen Tempel zur Kasse gebeten, erscheinen acht Euro Eintritt für das riesige Areal der Zitadelle mehr als fair. Es gibt drei vorgeschlagene Routen über das Gelände. Offensichtlich können wir hier zwischen zwei und acht Stunden verbringen. Uns gelingt die Ganztagestour zum Glück auch in weniger Zeit. Im Zick Zack fliehen wir vor den Reisegruppen und genießen Blumenpracht und vor Historie strotzende Gebäude. Auf dem Gelände waren Frauen und Mutter des jeweiligen Kaisers untergebracht, es gab eine Tempelanlage, Gärten als Erholungs- und Studienort, die verbotene Stadt, in der den politischen Geschäften nachgegangen wurde und natürlich der Kaiserpalast. Leider ist durch den Krieg nicht das komplette Gelände erhalten, ein beeindruckender Animationsfilm zeigt uns den geplanten Wiederaufbau.

Schon öfter ist uns auf unserer Reise aufgefallen, wie sehr das Internet reisen verändert. Mit den Abenteurern aus vergangenen Zeiten hat es nicht mehr viel zu tun. So schön es teilweise ist, Unterkünfte, Sehenswürdigkeiten, Restaurants schnell zu finden, so sehr nimmt es auch das Abenteuer. Als wir gerade unser Mittagessen an einem typischen Straßenrestaurant bestellen, entdecken wir an der Wand ein Werbeschild mit dem Auszug aus unserem Reiseführer, inklusive konkreter Seitenangabe. Wir sind durch Zufall hier gelandet, um uns nur Touristen. Das Restaurant nebenan wirbt mit der Top-Empfehlung bei TripAdvisor. Irgendwie absurd, das Essen war trotzdem gut.

Nach dem Sightseeing leihen wir uns am nächsten Morgen Fahrräder in unserer Unterkunft aus und kommen mit unserer Gastgeberin ins Gespräch. Sie erzählt uns, dass sie ursprünglich aus Hue kommt, ihre Familie dann nach Da Lat gezogen ist und sie nie erwartet hat, zurückzukommen, bis sie ihren Ehemann traf. Ihre Freunde in der neuen Heimat, sind überrascht wie modern und entwickelt Hue ist. In ihrer Vorstellung wohnt ihre Freundin quasi direkt in der Zitadelle mit einer Infrastruktur aus vergangenen Zeiten.  Wirklich schockiert sind wir allerdings, als sie uns erklärt warum sie ihren Zaun höher ziehen musste und die Hoftore immer geschlossen sind. In Hue sind Hundefänger unterwegs. Die Regierung hat die Hundefarmen als Nahrungslieferant verboten und nun stehlen Männer mit einem Kescher Hunde von Grundstücken. Zwei Hunde hat sie bereits auf diesem Wege verloren, auch der Nachbarshund wurde einfach mitgenommen. Als Hundebesitzer sind auch wir ab sofort nervös, wenn fremde Menschen um das Gartentor schleichen.

Nach so viel Stadt, wollen ins Grüne. Mit dem Rad im asiatischen Stadtverkehr unterwegs zu sein, wirkt immer ein wenig fehl am Platz. Eigentlich ist dies fast entspannter als zu Hause, da hier alle Verkehrsteilnehmer besser mit Zweirädern umgehen können, dennoch sind große Kreuzungen ein echter Nervenkitzel, vor allem wenn die Ampel außer Betrieb ist.

Haben wir gehofft zwischen Reisfeldern die ein oder andere Kaisergrabstätte zu finden, wird aus der Stadt eher ein Dorf. Freie Fläche ist jedoch nicht zu finden. Das einzige Grün entdecken wir bei einem Eco-Resort, wir halten, um uns mit Pommes und Früchten zu stärken. Den Weg weiter folgend erreichen wir zwar keine kaiserliche Grabstätte, dafür aber einen herkömmlichen Friedhof. Die Gräber reihen sich über die hügelige Landschaft, jedes ist ein in Stein gemeißeltes Kunstwerk. Der Wind pfeift mystisch drüber, irre. Den restlichen Nachmittag genießen wir bei liebgewonnenem Kokosnuss-Kaffee und Eisschokolade.

Für einen letzten Stopp schwingt sich Dominik auf sein Fahrrad. Vor knapp sieben Jahren war er schon Mal in Hue. In der DMZ Bar hat er sich damals an der Wand verewigt, er will schauen ob die Kritzelei die Jahre überstanden hat. Die andere Seite des Flusses ist kaum wiederzuerkennen. Moderne Shoppingcenter und Restaurants haben den Blick zur historischen Seite verschlossen. Auch die DMZ Bar scheint dem stylischen Trend zu folgen. Die Wände sind grau, die Einrichtung modern. Augenscheinlich ist viel passiert in den letzten sieben Jahren. Wir sind gespannt, wie weit Hoi An noch wiederzuerkennen ist.